Ein Trolley am Ende der Welt
Tag 11: Oqaatsut KARTE
Nach dem gestrigen Tag voller Glücksgefühle, nach einem regelrechten Rausch in der Natur sitze ich heute ziemlich bedröppelt beim Frühstück.
Wie verkatert.
Fertig. Leer.
Nicht mehr aufnahmefähig.
Gestern gab's zu allem Überfluss nämlich auch noch ein Barbecue an Deck. Das muss man sich einmal vorstellen: In Grönland! Nach einem traumhaft schönen Tag. Du sitzt also gegen 20 Uhr draußen auf Deck. Es ist so warm, dass du nichts weiter als eine dünne Fleecejacke trägst. Ohne Sonnenbrille geht gar nichts. Es blendet, es glitzert von allen Seiten. Das Wasser ist ganz ruhig. Kein Schaukeln, nichts. Totale Stille. Eisberge umgeben dich. An deinem Tisch sitzen deine Fram-Lieblinge. Auf den Tellern: Steaks und Salat. In den Gläsern: Rot- und Weißwein. Dabei ist auch ohne Alkohol schon jeder wie betrunken vom Erlebten. Wir strahlen um die Wette.
Und jetzt, am nächsten Morgen?
Nehmen wir Kurs auf Oqaatsut. Wir verlassen das Paradies. Außerdem neigt sich die Reise dem Ende zu.
In zwei Tagen ist alles vorbei.
Ich bin richtig geknickt und seit vorgestern ohnehin irgendwie wie in Trance.
Oqaatsut hat meine merkwürdige Stimmung natürlich nicht verdient. Im idyllischen Dorf, welches wir gegen Mittag erreichen, leben nur 45 Personen. Und zwei der Bewohner kommen aus Deutschland!
Irgendwie sieht und spürt man das. Es ist - typisch deutsch - sehr ordentlich und aufgeräumt. Und "geschäftig": Es gibt sogar ein Restaurant, ein kleines Café, einen Souvenirladen und ein Hotel mit ein paar Zimmern.
Als ich durch den Ort laufe, legt ein Boot am Schiffsanleger an. Aus ihm steigen zwei Personen, die jeweils einen Rollkoffer hinter sich herziehen und Richtung Hotel laufen. Dieses Bild ist nach 11 Tagen in Grönland plötzlich bizarr für mich:
Ein Trolley am Ende der Welt!
Doch so ungewöhnlich ist der Anblick nicht. Oqaatsut liegt günstig, Luftlinie nur knapp 20 Kilometer von Ilulissat entfernt und damit dem "Touristenstrom" sehr nahe. Acht Stunden dauert die Wanderung von Ilulissat hier her, drei Stunden braucht man im Winter mit dem Hundeschlitten und per Boot erreicht man den Ort in einer Stunde. Agenturen aus Ilulissat bieten diverse Ausflüge hier her an, Mittagessen im Restaurant "H 8" inklusive.
Seit die beiden deutschen Auswanderer Uta und Ingo Wolff hier leben, hat sich viel getan im Dorf, konnte sich ein sanfter Tourismus etablieren. Seit 1997 lebt das Ehepaar aus Thüringen in Oqaatsut.
Auf der Internationalen Touristikbörse in Berlin kamen die Wolffs mit einem deutschen Reiseunternehmer, der Grönland tätig ist, ins Gespräch. Dieser wollte sein Geschäftsfeld erweitern und bot den beiden eine Kooperation im gastronomischen Bereich in Oqaatsut an. Ingo und Uta waren bereit für einen Neuanfang. Das ist jetzt 17 Jahre her.
16 Jahre lang führten die beiden das Restaurant vor Ort. Seit 2013 gibt es einen neuen Betreiber. Die Wolffs haben das Rentenalter erreicht, wollen etwas kürzer treten und das einfache, aber zugleich doch so schöne Leben in Grönland genießen. Längst ist das Ehepaar aus Deutschland in die Dorfgemeinschaft integriert. 2008 verlieh man ihnen sogar eine Art Ehrenbürgerschaft.
Ob Ingo und Uta in Oqaatsut auch alt werden, steht allerdings in den Sternen. "Die medizinische Versorgung ist in Grönland schlecht. Solange wir gesund sind, bleiben wir."
Auf der einstündigen Führung mit den beiden durch Oqaatsut hören wir viel über den Alltag im grönländischen Dorf: Vom Jagen und Fischen, vom Leben mit den Schlittenhunden und vom dunklen Winter, der "milder" ist als man annehmen möchte: Nur selten sinkt das Thermometer auf - 20 Grad.
Wie gerne würde ich mich länger und vor allem alleine mit den beiden unterhalten, vielleicht ja sogar spontan ein Interview führen. Aber: Das ist der Nachteil einer Gruppen/Schiffsreise: Alleine ist man praktisch nie. Man "konsumiert" das gebotene Programm stets in eingeteilten Gruppen.
Das erste Mal auf dieser Reise sehe ich so etwas wie einen Garten. Uta hat vor ihrem Haus in Eimern und kleinen Fässern ein paar Radieschen und sogar Kartoffeln angebaut. Der Sommer ist zwar kurz und nicht allzu warm, aber die Pflanzen gedeihen, wenn auch deutlich kleiner als bei uns in Deutschland.
Ich erinnere mich an das Buch "Am Ende der Eiszeit" von Klaus Scherer. Darin beschreibt der Grimme-Preisträger die Folgen des Klimawandels in der Arktis. Auch die positiven. Das Ansteigen der Temperaturen ist für die arktischen Länder nicht nur eine Katastrophe, sondern mitunter auch eine Chance. Die Bewohner passen sich längst den Folgen des Klimawandels an.
Die kleinen Pflanzen in Utas Eimern sind ein Paradebeispiel dafür. Überhaupt strahlt ganz Oqaatsut Zuversicht, Hoffnung und Optimismus aus.
Dies und das aus Oqaatsut
➡ Ingo und Uta Wolff haben erst dreimal auf Oqaatsut überwintert. Wenn sich die Sonne gar nicht mehr blicken lässt, besuchen sie ihre Verwandten in Deutschland oder fahren in den warmen Süden.
➡ Seit 1999 steht in Oqaatsut eine Sendemast. Ingo bezeichnet diesen Mast als "das Tor zur Welt". Mittlerweile gibt es eine schnelle WLAN-Verbindung im Dorf. Jedoch: Fließendes Wasser hat kein Haushalt in Oqaatsut. Mir erscheint das richtig grotesk.
➡ Oqaatsut heißt auch "Rote Bucht". Der Name erinnert an vergangene Walfangzeiten, als sich nach dem Walfang beim Ausnehmen der Meeressäuger das Wasser in der Bucht rot färbte.
➡ Weil's so lustig ist: Ein paar Radieschen im Paradieschen :-)
Brüller, oder nicht?
➡ Buchtipp: Klaus Scherer "Am Ende der Eiszeit". Die Arktis im Wandel. Piper Verlag München.